Adventskalender aus dem ISGV – 2021

Es dreht sich was: Ortspyramiden in Sachsen

von Nadine Kulbe

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Hau ruck! Jedes Jahr vor dem ersten Advent findet in vielen Orten im sächsischen Erzgebirge mit großem Brimborium das sogenannte Pyramidenanschieben statt. Im weihnachtlichen Ambiente werden die meterhohen Ortspyramiden in Drehung versetzt; es gibt Glühwein und Bratwurst, Weihnachtsmusik mit Chören und Blasorchestern und allerlei Heimeligkeit.

Pyramiden, das sind hauptsächlich aus Holz, bisweilen aus Metall gefertigte Gebilde mit überwiegend aus dem christlichen bzw. bergbaulichen Motivkreis stammenden Männeln auf drehbaren Tellern, die durch Flügelräder und Wärme angetrieben werden.

Die frühesten bekannten Pyramiden stammen aus dem 18. Jahrhundert. Wann genau sie ihren Weg in heimische Wohnstuben und öffentliche Räume fanden, ist noch immer nicht ganz klar, wiewohl Igor Jenzen, Direktor des Dresdner Museums für Sächsische Volkskunst, die interessante Theorie vertritt, dass das anlässlich der Hochzeit von Friedrich August II. und der habsburgischen Kaisertochter Maria Josepha 1719 gefeierte Saturnfest einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der erzgebirgischen Volkskunst geleistet und die Entwicklung von Schwibbögen und Pyramiden befördert hat.

Fest steht jedenfalls, dass der Brauch, meterhohe Pyramiden in den Orten des Erzgebirges unter freiem Himmel aufzustellen, deutlich jünger ist. Wieder einmal geht er unter anderem auf die 1937/38 in Schwarzenberg durchgeführte „Feierohmdschau“ zurück. Diese ‚Leistungsschau‘ erzgebirgischer Volkskunst wurde von Friedrich Emil Krauß, Industrieller aus Schwarzenberg, Vorsitzender des Heimatwerks Sachsen und Spindoktor erzgebirgischer Kultur im nationalsozialistischen Deutschland, geleitet; Schirmherr war der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann.

Voraussetzung für den Betrieb von Ortspyramiden war und ist Elektrizität, denn die drehbaren Teile sind so schwer, dass sie selbstverständlich nicht mehr mit aufsteigender Wärme bewegt werden können. Die erste solcherart betriebene Pyramide wurde vom Frohnauer Krippenverein gefertigt und im Dezember 1933 in Betrieb genommen. Neben ihr stand eine Spendenbüchse des nationalsozialistischen Winterhilfswerks (wie übrigens auch bei der Mitte der 1930er Jahre auf dem Markt in Aue aufgestellten). Zwei Jahre später wurde die Frohnauer Pyramide bereits wieder abgebaut. 1934 entstand in den Kraußwerken, deren Eigentümer Friedrich Emil Krauß war, die „Krauß-Pyramide“; das Gestell aus Metall, die Figuren aus Holz geschnitzt. Sie wurde das erste Mal bei der im Dezember 1934 in Aue durchgeführten „Krippenschau“ gezeigt, anschließend erhielt sie einen Platz auf dem Schwarzenberger Markt, bis sie zu einem Ausstellungsstück der „Feierohmdschau“ avancierte. Die Schwarzenberger „Krauß-Pyramide“ existiert bis heute und ist damit eine der ältesten erhaltenen und noch betriebenen Ortspyramiden. Außerdem löste sie einen wahren Freilandpyramidenboom aus. In vielen erzgebirgischen Orten fertigen die Schnitzvereine in den folgenden Jahren solche Großpyramiden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden diese zunächst nur vereinzelt aufgestellt, da ihre meist christliche Motivik nicht mit den sozialistischen Ansprüchen des neuen Regimes vereinbar waren. Schnitzvereine, im Kulturbund organisiert, fertigen neue Ortspyramiden, auf denen sich nicht mehr die Heilige Familie, sondern Bergarbeiter, Wismut-Kumpel und die Regionalgeschichte drehten. Nach 1990 wurden wiederum die Männeln dieser Pyramiden erneuert. Die Kumpel wichen den Weisen aus dem Morgenland – so beispielsweise in Cunersdorf bei Annaberg-Buchholz. 2001 wurde dort eine neue, vom Schnitzverein gefertigte Pyramide aufgestellt. Die ältere wurde abgebaut und an das Museum Europäischer Kulturen in Berlin transloziert, wo sie heute noch bewundert werden kann.

Wie stark Ortspyramiden im Erzgebirge verankert sind, hat Claus Leichsenring in zahlreichen Publikationen gezeigt. Zählte er 1979 noch 70 Pyramiden, waren es 2008 bereits 577. Inzwischen sind sie auch über das Erzgebirge hinaus bekannt: als Geschenke für Partnerstädte, als Verkaufsstände für Glühwein und als Werbeträger.

Die ‚echten‘ erzgebirgischen Ortspyramiden aber sind und bleiben Gemeinschaftsarbeiten, um die sich insbesondere die örtlichen Schnitzvereine verdient machen – und das nicht nur bei ihrer Herstellung, sondern viel mehr noch bei ihrer regelmäßigen Pflege und den Reparaturen, denn die aufwendig gefertigten, dem Winterwetter ausgesetzten Objekte sollen sich ja lange drehen.

Weniger kraftaufwendig, oft auch eher allein und im Stillen zelebriert und trotzdem eine gleichermaßen beliebte Adventsbeschäftigung ist das Öffnen von Kalendertürchen. Verknüpfen wollen wir beides in unserem digitalen Adventskalender, denn so viel sei verraten: Hinter den Türchen warten Ortspyramiden aus ganz Sachsen. Unsere Empfehlung für die Corona-Vorweihnachtszeit 2021 lautet daher, jeden Tag ein Türchen dieses Kalenders zu öffnen und die erzgebirgischen Ortspyramiden bei Kerzenschein zuhause zu genießen. Das Pyramidenanschieben aus vergangenen Jahren kann kontaktarm bei Youtube konsumiert werden: in Annaberg-Buchholz, Ehrenfriedersdorf oder Hartmannsdorf.

Literatur

Igor Jenzen: Das Saturnfest zur Fürstenhochzeit von 1719 und seine Folgen für die erzgebirgische Volkskunst, in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz (2019), H. 2/3, S. 84-93.

Claus Leichsenring: Erzgebirgische Ortspyramiden, Schneeberg 1980.

Claus Leichsenring: Weihnachtspyramiden des Erzgebirges, Husum 2009.

Tina Peschel/Dagmar Neuland-Kitzerow: Weihnachtspyramiden. Tradition und Moderne, Husum 2012.

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